Familie Mohr

Antonie, Elisabeth, Wilhelmine und Otto Mohr
(Stolpersteine Hauptstraße 23, Abbildung siehe oben)

Wie die meisten jüdischen Familien, die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Germersheim lebten, waren auch die Mohrs aus der Nahregion zugewandert. Sie stammten von Michel Mohr ab, einem 1809 in Oberlustadt wohnenden Gebrauchtwarenhändler. Sein Enkel Maximilian, ein 1858 bereits in Germersheim geborener Metzgersohn, vertrieb Großvieh. Beruflich konzentrierte sich Maximilian Mohr auf die aufblühende Garnisonsstadt und ihren Schlachthof. Hier versprach der kontinuierlich steigende Fleischbedarf gute Geschäfte. Das half ihm, sich geschäftlich zu konsolidieren und in der Jakobstraße 183 einen eigenen Hausstand zu gründen. Aus der Ehe mit Klara Haas gingen vier Kinder hervor: die drei Töchter Antonie (Toni) (1889-1942), Elisabeth (1890-1942) und Wilhelmina (1891-1942) und der Sohn Otto (1896-1942). Alle vier blieben unverheiratet und führten einen gemeinsamen Haushalt. Die Töchter bewirtschafteten ihre zahlreichen landwirtschaftlichen Liegenschaften, während der Viehhändler, Kaufmann und zeitweilige Zigarrenfabrikant Otto Mohr seit 1923 das väterliche Unternehmen leitete.

Im November 1915 wurde der 19-jährige Landsturmmann Otto Mohr zur Armee einberufen, den Krieg verbrachte er jedoch fern der Fronten. Mitte der 1920er Jahre erwarb er als Geschäftsnachfolger seines verstorbenen Vaters ein 1.680 Quadratmeter großes, auf den Viehhandel zugeschnittenes Anwesen im Zentrum Germersheims. Es lag an der Hauptstraße 127 (heute 23), der verkehrsreichsten Straße der Stadt. Dazu gehörten ein zweistöckiges Wohnhaus mit Nebengebäuden und einem Hinterhaus, wo Waschküche und Autogaragen untergebracht waren, sowie zwei Ställe, eine größere Scheune samt Heu- und Strohspeicher, ein angebauter Schuppen und ein großer Gemüse- und Obstgarten.

Am Ort weckte der Erwerb der Immobilie in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit ein hohes Maß an Neid. Die seit 1927 in Germersheim aggressiv agitierenden Nationalsozialisten stilisierten Otto Mohr zu einer lokalen Hassfigur, auf die gängige rassistische Stereotypen und Vorurteile projiziert wurden. Nach der Machtübernahme 1933 inszenierte diese Gruppe ein Schmäh-Spektakel, das als „Germersheimer Schand-Marsch“ in die Annalen einging. Der als graue Eminenz der früheren Stadtpolitik erachtete Zentrumspolitiker August Ebinger und der jüdische Viehhändler Otto Mohr wurden am 22. Juni 1933 verhaftet, von einem SA-Trupp auf den Königsplatz gezerrt und mit umgehängten Schildern einer hämisch johlenden Menschenmenge präsentiert. Während bei Ebinger „Ich bin der Hauptschuldige am Ruin der Stadt“ zu lesen war, schürte die Aufschrift bei Mohr die altbekannten Klischees gegen jüdische Selbständige: „Ich habe jahrelang das deutsche Volk bestohlen“. Es folgte ein Spießrutenlaufen durch die Stadt, bei dem die Bewohner ihren Hass an den beiden Männern auslassen konnten.

Dass die Geschwister Mohr trotzdem im Land blieben, erscheint rückblickend schwer verständlich. Ende Dezember 1937 erhielt Otto Mohr das befürchtete Berufsverbot. Während seine Schwestern als Landwirtinnen an Haus und Land festhielten, gelangte Otto auf ungeklärtem Weg 1938 nach Belgien und fand in Saint-Gilles bei Brüssel eine Bleibe. Zunächst erleichtert, dem reichsweiten November-Pogrom 1938 entgangen zu sein, wurde er nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Beneluxstaaten als „feindlicher“ Ausländer ins südfranzösische Internierungslager Saint-Cyprien bei Perpignan gebracht, später wahrscheinlich in das inzwischen mit saarpfälzischen und badischen Jüdinnen und Juden gefüllte Lager Gurs verlegt. Dorthin wurden auch seine Schwestern aus Germersheim im Oktober 1940 deportiert. Nach 22 Lagermonaten wurden die Frauen im August 1942 erst in das Sammellager Drancy/Paris verlegt, am 10. August brachte sie der Transport Nr. 17 ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Wenige Stunden nach ihrer Ankunft wurden sie in der Gaskammer umgebracht.

Otto Mohr hatte einen Fluchtversuch unternommen, um im noch unbesetzten Vichy-Frankreich unterzutauchen, war aber verhaftet und anschließend dem KZ Oranienburg/Brandenburg überstellt worden. Am 24. September 1942 trat auch er die Fahrt nach Auschwitz an. Der Germersheimer Ast der Familie Mohr existierte nicht mehr, Antonie, Elisabeth, Wilhelmine und Otto Mohr wurden am 6. Mai 1949 vom Amtsgericht Germersheim förmlich für tot erklärt.

Auch nach Kriegsende zeigte kaum jemand Interesse am Schicksal der Geschwister Mohr. Dafür gab es handfeste Gründe: Nicht wenige Germersheimer Bürger hatten von der Deportation profitiert. Man verdrängte die einst offen bekundete Gesinnung und Handlungsweise durch Verschweigen und Verharmlosung. So hatte Regierungsbaurat Adam schon 1942 den Wert des Wohnhauses herabgesetzt. Auch die 40 landwirtschaftlich genutzten Grundstücke der Familie wurden in den 1950er Jahren an Landwirte und Bauherren aus der Region günstig verkauft.

Die Eltern der Geschwister Mohr, Max und Klara, ruhen seit 1923/27 auf dem jüdischen Friedhof in Rülzheim