Familien Kahn/Ebert

Max und Sofie Ebert, Ferdinand und Isabella Kahn
(Stolpersteine Hauptstraße 10)
Auguste und Rudolf Kahn (keine Stolpersteine)

Von Germersheims jüdischen Familien war die der Kahns am längsten und engsten mit der Stadt verbunden. 1829 hatte Ferdinand Kahn dort einen Tuch- und Kleiderhandel gegründet, der seit 1834, dank der durch den Festungsbau ausgelösten Nachfrage, gute Umsätze erzielte. Ferdinands Sohn Wilhelm und seine Enkel August und Ernst Kahn, die das Geschäft bis 1914 gemeinsam leiteten, erweiterten und spezialisierten ihr Warenangebot, um den Wünschen des Militärs gerecht zu werden, so dass sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als die renommiertesten Ausstatter der Germersheimer Garnison galten. Ihr Anwesen an der Queich (Hauptstraße 140, heute Hauptstraße 10) umfasste ein geräumiges zweigeschossiges Wohn- und Geschäftshaus samt den in Nebengebäuden untergebrachten Lagerräumen. Selbst ein um 1900 sehr seltener Telefonanschluss war vorhanden. Obwohl ihr Geschäftserfolg auf maßgeschneiderten Uniformen basierte, versorgten die Kahns die Bevölkerung auch mit Herren-Anzugsstoffen und Damen-Kleiderstoffen sowie Vorhängen, Teppichen, Möbelstoffen und Bettwaren.

Die bürgerlich-monarchistische Gesinnung der Kahns zeigte, wie stark die geschäftliche Ausrichtung auf die Armee auch die politische Selbstverortung der Familie beeinflusst hatte. Die Anzeigen der Firma Kahn aus dem frühen 20. Jahrhundert dokumentieren, dass Staat und Nation, Krone und Armee zu neuen Kategorien im Denken der assimilierten jüdischen Familien geworden waren: Prädikate wie „Königlich bayerischer Hoflieferant“ standen unter dem Wappen der regierenden Wittelsbacher Dynastie. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert führten Ernst und August Kahn das Unternehmen, während sich ihr Vater Wilhelm kommunalpolitisch betätigte. Er wurde 1905 als erster Jude in den Germersheimer Stadtrat gewählt.

August, der mit der Nürnberger Kaufmannstochter Auguste Lederer verheiratet war, starb aber bereits 47-jährig, sechs Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sein Sohn Rudolf Kahn (geb. 1896), der in Würzburg das Studium der Volkswirtschaft und Rechtswissenschaft begonnen hatte, konvertierte 1915 vom Judentum zum evangelischen Glauben. Diese kulturell-religiöse Angleichung an die Mehrheitsgesellschaft vollzog er inmitten der aufgeheizten Atmosphäre der Kriegszeit. In den letzten Kriegswochen errang er als Leutnant der Reserve das Preußische Eiserne Kreuz der 1. und 2. Klasse. Nach Ende des Krieges schloss Rudolf Kahn das Studium mit einer Promotion ab und zog nach Berlin, wo er Ende der 1920er Jahre heiratete. 1934 emigrierte er nach Großbritannien, denn weder seine Konversion noch seine deutschpatriotische Haltung hatten ihn vor dem militanten Antisemitismus bewahrt. In Großbritannien wurde er als sogenannter feindlicher Ausländer zunächst interniert.

Seine verwitwete Mutter Auguste Khan hatte 1922 Germersheim verlassen und war 1934 nach einigen Jahren in München und Meinungen/Thüringen nach Berlin-Charlottenburg gezogen. Am 20. Juli 1942 wurde die 69-jährige Rentnerin mit dem 26. Alterstransport ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Laut Todesfallanzeige des dortigen Ältestenrates starb sie, gesundheitlich schwer angeschlagen, am 21. November an „Darmkatarrh“.

Durch den plötzlichen Tod seines Bruders August im Sommer 1914 war Ernst Kahn zum alleinigen Inhaber des Familienbetriebs geworden. Nach väterlichem Vorbild lokalpolitisch engagiert, hatte Ernst ab 1907 dem Synagogenausschuss und ab 1910 dem Stadtrat angehört, wo er sich 1920 der rechtsliberalen Freien Bürgervereinigung anschloss. Mühevoll navigierte er das Unternehmen durch schwierige Kriegsjahre und eine wirtschaftlich turbulente Nachkriegsperiode bis zu seinem Tod Ende 1926. Sein einziges Kind, der 1895 geborene Ferdinand Kahn, war wie der jüngere Cousin Rudolf durch Erziehung und Zeitgeist militärpatriotisch gesinnt. Der frischgebackene 19-jährige Student der Volkswirtschaft meldete sich gleich nach Kriegsbeginn 1914 freiwillig zur Armee. Im 1. bayerischen Fußartillerie-Regiment verbrachte er die gesamte Dauer des Krieges an der Westfront und wurde mehrfach ausgezeichnet. Dass der mittlerweile 23-jährige Soldat erst im September 1918 zum Leutnant der Reserve ernannt wurde, ohne das entsprechende Offizierspatent zu erhalten, steht offenbar im Zusammenhang mit dem in Militärkreisen grassierenden Antisemitismus.

Nach seiner Entlassung aus dem Heeresdienst 1918 verzichtete Ferdinand Kahn auf die Fortsetzung des Studiums und wurde stattdessen Kaufmann in der Handelsmetropole Frankfurt/M. Dort heiratete er im März 1921 die drei Jahre jüngere Isabella (Bella), Tochter seines Kaufmannskollegen Max Ebert aus Unterfranken und seiner Frau Sofie. Das junge Paar blieb in Frankfurt, denn Ferdinand bezweifelte die Rentabilität des vom Konkurs bedrohten elterlichen Geschäfts, dem der Abzug des bayerischen Militärs Ende 1918 die wichtigste Stütze genommen hatte. Als sein Vater 1926 und seine Mutter 1927 verstarben, trat Ferdinand Kahn – wider besseres Wissen und einzig der Familientradition geschuldet – beruflich in die Fußstapfen der Vorväter. Da ihm die Schwiegereltern nach Germersheim folgten und einen gemeinsamen Haushalt bildeten, konnte die Familie einen bescheidenen Wohlstand bewahren.

Die seit Herbst 1926 aktive NSDAP-Ortsgruppe in Germersheim, die den salonfähig gewordenen Antisemitismus zu einem omnipräsenten Faktor im Alltag machte, setzte den Khans schwer zu. Drei Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Geschäfte aller jüdischen Gewerbetreibenden in Germersheim boykottiert. Am 10. November 1938 wurde der 43-jährige Kahn während der Reichskristallnacht von Polizisten aus seiner Wohnung gezerrt und nach eintägiger „Schutzhaft“ im Germersheimer Gefängnis ins KZ Dachau überstellt. Am 16. Dezember 1938 wurde er entlassen und kehrte heim, ohne aber die ihm nahegelegte Ausreise zu betreiben. Rund 22 Monate später, am 22. Oktober 1940, fielen Isabella und Ferdinand Kahn der „Judenaktion“ zum Opfer, mit der die Gauleiter Bürckel und Wagner die Saarpfalz und Baden „judenfrei“ machen wollten. Wie die Geschwister Mohr und Gustel Töpfer wurden Ferdinand und Isabella Kahn nach Landau gefahren, wo sie mit anderen jüdischen Menschen aus der Pfalz in Züge verladen und in das Lager Gurs in Südfrankreich deportiert wurden. Nur leichtes Handgepäck und 100 RM pro Person in bar durften mitgenommen werden. In Gurs lebte das Ehepaar unter großen Entbehrungen in getrennten Lagerblöcken. Kahns Schwiegereltern wurden in das jüdische Altenheim nach Mannheim gebracht, wo Max Ebert bald verstarb.

Im März 1941 wurden Ferdinand und Isabella in das potenziellen Auswanderern vorbehaltene Lager Les Milles bei Marseille überwiesen. Den letzten, lebensrettenden Dienst erwies ihnen die 68-jährige Schwiegermutter Sofie Ebert, indem sie in die USA geflohene nahe Verwandte, darunter den Kaufmann Joseph Freundlich, drängte, für die beiden Internierten zu bürgen. Dank Freundlichs tatkräftiger Hilfe glückte das Vorhaben. Für die Kahns öffneten sich am 18. August 1941 die Lagertore. Von Marseille ging es über Spanien nach Lissabon, wo sie den Atlantik überquerten und am 24. September 1941 in New York eintrafen. Ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft beantragten sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Den Lebensunterhalt bestritt die 43-jährige Isabella Kahn durch strapaziöse Fabrikarbeit in New York City.

Sofie Ebert konnte sich selbst nicht retten: Am 28. August 1942, zehn Tage nach ihrem 70. Geburtstag, wurde sie ins Ghetto Theresienstadt und von dort am 29. September ins neu errichtete Vernichtungslager Treblinka bei Warschau deportiert. Unmittelbar nach Ankunft und Selektion an der Verladerampe starb sie in einer der Gaskammern.

In Germersheim entbrannte der Streit über die Verwendung des Wohn- und Geschäftshauses sowie diverser Grundstücke der Kahns. Die Kreis- und Stadtsparkasse Germersheim beschloss daher im Dezember 1940 zusammen mit Landrat Schmitt, den gepfändeten Hausrat zu versteigern. Am 29. August 1941 verkaufte die Sparkasse das Wohnhaus dem 27-jährigen Schuhmachermeister und Jungbannführer der Hitlerjugend Friedrich Köhler für RM 24.000; die Hälfte der Summe streckte das Institut als Darlehen vor. Kahns vier landwirtschaftlich nutzbare Grundstücke verwaltete Ortsbauernführer Otto Frey. Inzwischen hatte das NS-Regime durch die am 25. November 1941 erlassene 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz den über die Reichsgrenze deportierten Jüdinnen und Juden die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und den Besitz der Staatenlosen auch formell konfisziert. Verwaltung und Verwertung des Vermögens der Khans übernahm das zuständige Finanzamt Germersheim und verpachtete Wiesen, Äcker und Gärten.

1949 beantragten Isabella und Ferdinand Kahn die Rückgabe der Objekte und eine Entschädigung. Wie bei vielen anderen jüdischen Familien endete das Verfahren mit einem Vergleich, der den Verlust nicht annährend ausglich. Der Germersheimer Rechtsanwalt Kerscher erreichte, dass der aktuelle Besitzer gegen eine Abfindung von nur DM 7.000 bestätigt wurde. Als Begründung wurden die Wertminderung durch Kriegsschäden am Gebäude und die „völlig unabhängig von dem politischen Zeitgeschehen“ und „längst vor 1933 eingetretene Überschuldung“ genannt. Ferdinand Kahn, der immer noch den „Heimatbrief“ seiner Geburtsstadt abonniert hatte, starb in seinem amerikanischen Wohnort Queens am 14. November 1969.