Familie Schriesheimer

Familie Schriesheimer
(in Germersheim, Hauptstraße, bis in die 1930er Jahre gelebt)

Der 26-jährige Kaufmann Moritz Schriesheimer, Sohn eines Viehhändlers aus Leutershausen an der Bergstraße, eröffnete 1900 in Germersheim ein Ladengeschäft (Hauptstraße Nr. 126), das den Einwohnern ein Warenangebot von Kleidung über Spielzeug bis zu Tabakwaren bot. Unter dem bezeichnenden Namen „Zur billigen Quelle“ produzierte und vertrieb er außerdem das den Soldaten der Garnisonsstadt im Dienst erlaubte Mineralwasser. 1898 hatte er nach dem Tod der Eltern seinem Heimatort den Rücken gekehrt. Wenig später heiratete er Bertha (Betty), die vier Jahre ältere Tochter des verstorbenen Rülzheimer Schneiders und Händlers Isaak Feibelmann. 1907 nennt das Germersheimer Adressverzeichnis Bertha mit ihrem Mädchennamen noch vor dem als Inhaber des Geschäfts firmierenden Ehemann. Diese Reihung deutet auf eine partnerschaftliche Beziehung, aber auch auf eine Mitgift hin, die die Geschäftsgründung wohl erleichtert hatte. Beide befolgten die im südpfälzischen Landjudentum üblichen kulturell-religiösen Gebote, insbesondere die Speisevorschriften. In dem Germersheimer Wohn- und Geschäftshaus kamen die fünf Kinder des Ehepaars zur Welt: Anna Elisabeth (Liesel, 1901), die als Kleinkind verstorbene Hilde (1902-1903), Erna (1906), Gertrude (1908) und Friedrich (Fritz, 1911).  

Für die Mittelschichtfamilie stellte der Erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt dar, denn die Warenknappheit und die immer strengere Rationierung drückten den Umsatz des Geschäfts. Im Mai 1915 wurde das Familienoberhaupt einberufen und diente der 2. Kompanie des Germersheimer Ersatzbataillons, die das Kriegsgefangenlager vor den Toren der Stadt bewachte. Dort blieb Schriesheimer bis zu seiner Demobilisierung 1918 und wurde für seine gute Führung belobigt. Nach dem Waffenstillstand verlor die Stadt ihre Garnison und damit nahezu die Hälfte der Bevölkerung. Die Kaufkraft der Einwohner sank durch Inflation und Verarmung dramatisch und dies belastete auch Schriesheimers Unternehmen stark.  

Erst die Vermählung der ältesten Tochter Anna Elisabeth entlastete das angespannte Familienbudget ein wenig. 1925 heiratete sie den in Germersheim dienenden französischen Soldaten Henri Charles Mialhe, einen gelernten Buchhalter, und zog in dessen südfranzösische Heimat nach Mazamet. Vier Jahre danach folgte ihr die gerade volljährig gewordene Schwester Gertrude, die im Dezember 1937 den aus Ungarn stammenden Leopold Farkas heiratete, mit dem sie in Paris ein Wäschegeschäft führte. Ab 1926 arbeitete die inzwischen 20-jährige Tochter Erna als Stenotypistin, dann als Sekretärin für den Bund Israelitischer Wohlfahrtsvereinigungen Baden e.V. in Karlsruhe. Im selben Jahres begann der 14-jährige Sohn Fritz eine kaufmännische Lehre bei der Stadtbank Germersheim, wo er bis Ende 1930 blieb.  

Seit den 1920er Jahren repräsentierte Moritz Schriesheimer als zweiter Vorstand die jüdische Kultusgemeinde in Germersheim. Diese Betätigung, sein französischer Schweigersohn und seine „franzosenfreundliche Gesinnung“ machten ihn zum Ziel von Bespitzelung durch die Gendarmerie-Hauptstation Germersheim, die der für politische Angelegenheiten und Spionageabwehr zuständigen Polizeidirektion München berichtete. Um den zunehmend antisemitischen Repressionen zu entgehen, suchten die als „national unzuverlässig“ etikettierten Schriesheimers die schützende Anonymität von Karlsruhe. Als Folge der unfreiwilligen Liquidierung seines Betriebs hatte Moritz Schriesheimer keine Einkünfte mehr und war auf die Unterstützung seiner Kinder angewiesen. Verbittert starb der 64-jährige Händler am 6. Oktober 1937. Das Leben seiner Kinder wurde weiterhin durch das willkürliche Verhalten der Behörden erschwert, etwa als Erna und Fritz Schriesheimer im November 1937 bei der Passabteilung des Karlsruher Polizeipräsidiums einen Reisepass beantragten, um zur Hochzeit ihrer Schwester Gertrude nach Paris reisen zu können. Auf Betreiben der Gestapo (Stapo-Leitstelle Karlsruhe) erfolgte kommentarlos die Ablehnung.  

Nach dem Tod ihres Vaters kümmerte sich Erna Schriesheimer um ihre Mutter Betty Schriesheimer. Seit Frühjahr 1938 leitete die 32-Jährige das Karlsruher Büro des Israelitischen Wohlfahrtsbundes. 1939 bereiteten die beiden Frauen ihre Emigration in die USA vor, um der antisemitischen Stimmung zu entfliehen. Bis zur Erteilung der Einreisevisa wollten sie die Wartezeit in Frankreich verbringen, aber noch während das Polizeipräsidium Karlsruhe die (nur zwölf Monate gültigen!) Reisepässe und eine steuerliche Unbedenklichkeitserklärung bearbeiteten, versperrte der Kriegsbeginn den Fluchtweg ins Nachbarland. 


Am 22. Oktober 1940 deportierten die Gauleiter Wagner (Baden) und Bürckel (Saarpfalz) die verbliebenen 6.500 jüdischen Menschen in ihrem Machtbereich per Bahn in den Lagerkomplex Gurs am Fuß der Pyrenäen. Erna und Betty Schriesheimer mussten innerhalb von zwei Stunden ihre Wohnung räumen und bis auf 50 Kilogramm Handgepäck sowie 100 RM Bargeld alles zurücklassen. Im Internierungslager Gurs führten Überbelegung, katastrophale sanitäre Verhältnisse, Kälte, Hunger und fehlende medizinische Versorgung zu hohen Sterblichkeitsraten. Die Lagerverwaltung entließ Betty und Erna Schriesheimer schließlich aufgrund gesundheitlicher Probleme im Februar 1941 am Wohnort der ältesten Tochter Elisabeth, Brassac-les-Mines – mit der Auflage, sich dort unverzüglich auf dem Bürgermeisteramt und bei der Gendarmerie zu melden –, sicherlich auch weil der Sohn Fritz mittlerweile freiwillig in der französischen Armee diente. Dank ihrer Verwandten überlebte Betty Schriesheimer, zuletzt versteckt, in Frankreich, starb aber im April 1945.  

Außerhalb des Lagers besaß Erna Schriesheimer hinreichend Bewegungsfreiheit, um im Wettlauf gegen die Zeit ihre Emigration voranzutreiben. Im Mai 1941 sprach sie beim US-Konsulat in Marseille vor und beschaffte sich in Clermont-Ferrand einen Fremdenpass. Nach sechs Monaten traf das US-Visum ein, für das ein unbekannter US-Amerikaner die erforderliche persönliche Bürgschaft übernommen hatte. Ernas Flucht per Schiff brachte sie von Marseille durch das umkämpfte Mittelmeer zur westalgerischen Hafenstadt Oran. Von dort ging es per Bahn weiter nach Casablanca. Per Dampfer erreichte sie im März 1942 New York. In der Neuen Welt teilte sie das Los vieler mittelloser Flüchtlinge und lebte zwischen 1942 und 1952 sehr bescheiden als Haushaltshilfe. Erst im Spätjahr 1944 konnte sie wieder Kontakt mit der Familie in Frankreich aufnehmen.

Finanzielle Sicherheit brachte erst die Ehe mit dem aus Frankfurt am Main geflohenen Kaufmann Otto Löwenthal. Ab 1953 lebte das Ehepaar in Milwaukee, Wisconsin. Von dort strengte Erna Schriesheimer mehrere Entschädigungsverfahren gegen den deutschen Staat an. Den Schaden an Eigentum und Vermögen konnte sie – anders als ihre vor 1930 nach Frankreich übergesiedelten Schwestern – mit Dokumenten nachweisen, darum fiel ihr in diesem Verfahren die federführende Rolle zu. Sie klagte zunächst auf Plünderungsschaden wegen der beschlagnahmten und versteigerten elterlichen Wohnungseinrichtung beim Amtsgericht Karlsruhe in Höhe von 19.529 DM. Die beklagte Oberfinanzdirektion betonte, dass der Versteigerungserlös des Hausrats 1940/41 lediglich 2.190,60 RM betragen habe. Unerwähnt blieb der politisch gewollte Weiterverkauf von jüdischem Besitz zum Bruchteil des Zeitwerts, eine der Bereicherungsmöglichkeiten, die der NS-Staat bot, um sich die Loyalität der Masse der Angepassten zu sichern. 1960 verglichen sich beide Seiten auf rund 50 Prozent des reklamierten Schadenswerts, den die vier Geschwister sich teilten. An persönlicher Wiedergutmachung erhielt Erna Löwenthal-Schriesheimer am 27. April 1956 eine Entschädigung für ihre als „Haft“ bezeichnete Deportation einschließlich des Aufenthalts im Lager Gurs (450 DM für die 115 Tage). Mit einem Vergleich endete 1966 der sich nahezu zwei Jahrzehnte hinziehende Kampf um Gerechtigkeit. Wenig später starben zuerst Otto Löwenthal und 1968 Erna Schriesheimer in ihrer US-amerikanischen Wahlheimat.   

Fritz Schriesheimer, der als Buchhalter beim Karlsruher Textilunternehmen Blicker gearbeitet hatte, war schon 1935 im Zuge der „Arisierung“ des Unternehmens entlassen worden. Seiner beruflichen Perspektiven beraubt, setzte er sich im September 1938 offensichtlich illegal nach Frankreich ab, weil er die langwierige Genehmigung seines für die USA beantragten Visums nicht abwarten wollte.  

Bis zum Krieg konnte er mangels einer Arbeitserlaubnis in Frankreich nicht arbeiten. Nach Kriegsausbruch wurde er interniert und leistete dann Militärdienst in Nordafrika bis zu seiner Demobilisierung im September 1940. In einem Lebenslauf für das Landesamt für Wiedergutmachung Baden-Württemberg schildert er, wie er nach der Entlassung aus dem Militärdienst in ein Zwangsarbeiterlager bei Colomb-Bechar, Algerien, gebracht wurde. Mitten in der Sahara mussten die Arbeiter bei schlechter Verpflegung und großer Hitze Felsblöcke zerkleinern, die zum Bau einer Bahnstrecke dienten. Aus einem zweiten Lager in Kerzaz wurde er im Februar 1941 befreit. Zurück in Frankreich arbeitete er zunächst als Landarbeiter und versteckte sich dann bis zur Befreiung mit falschen Papieren bei Bauern.1948 heiratete er eine jüdische Frau mit zwei Kindern, deren erster Mann deportiert und getötet worden war. 

Im Entschädigungsverfahren von Frédéric Richemer, wie er sich nach dem Krieg nannte, gegen das Landesamt für Wiedergutmachung Baden-Württemberg wegen Schaden im beruflichen Fortkommen, machte er 21.578,40 DM geltend. Tief enttäuscht verwarf er den 1957 vorgelegten Vergleich, der 8.315 DM vorsah. 1964 klagte er stattdessen auf Entschädigung wegen Schaden an Körper und Gesundheit und berief sich auf ein in Paris angefertigtes neuro-psychiatrisches Fachgutachten, das ihm Depressionen, Verfolgungswahn sowie eine verfolgungsbedingte Teil-Erwerbsunfähigkeit attestierte. Schriesheimers Klage wurde am 24. Februar 1970 von der 2. Entschädigungskammer des Landgerichts Karlsruhe ebenso abgewiesen wie am 28. Juni 1972 seine Berufungsklage durch den 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Laut Urteilsbegründung hatten die französischen Vertrauensärzte keinen exakten Befund erhoben, und man folgte der Stellungnahme von Karl Peter Kisker, Professor an der Universität Hannover, der regelmäßig psychische Störungen von NS-Verfolgten als Folge vorübergehender Erschöpfungszustände bewertete und damit Beihilfe zum Kleinkrieg gegen die Opfer leistete. Schriesheimer musste sich nach achtjährigem Prozessmarathon mit einer kleinen Entschädigung bescheiden. Der gebürtige Germersheimer starb 2003 in einem abgelegenen Dorf in der Bretagne.